Jetzt, mitten in der Corona-Krise, stehen unser aller Gesundheit und die Gesundheitspolitik ganz im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses.
Zur Zeit ist unser Gesundheitssystem einem schweren Stress-Test unterworfen. Ich bin optimistisch und überzeugt, dass alle gemeinsam, Pflegekräfte, Therapeut*innen, Ärzt*innen und alle anderen Berufsgruppen ihren Aufgaben sehr gut gerecht werden und die Krise so gut wie möglich und zum Wohl aller Mitbürger*innen meistern werden.
Aber auch jenseits der aktuellen Krise sind gesundheitspolitische Fragen von großer Bedeutung. Rund 10% unseres Bruttoinlandsprodukts geben wir für unsere Gesundheit aus. Unser Gesundheitssystem gilt als eines der leistungsfähigsten in der Welt. Oft wird jedoch kritisiert, dass unser Gesundheitssystem nicht effektiv genug ist, dass wir also viel Geld pro Kopf der Bevölkerung ausgeben und dafür zum Teil nur mittelmäßige Ergebnisse ernten.
Die großen Stärken unseres Gesundheitssystems sind:
- die gute Zugänglichkeit und hohe Verfügbarkeit von Gesundheitsdienstleistungen
Hierzu gehört eine international sehr hohe Zahl an Ärzt*innen und Krankenhausbetten/ Kopf, ein Vorteil gerade jetzt in der Krise. Auch wenn wir immer wieder auf Termine warten müssen, im internationalen Vergleich sind diese Wartezeiten sehr gering.
- die gute Qualität der Versorgung
Dementsprechend ist auch das Vertrauen der Menschen in unser Gesundheitssystem zurecht sehr hoch.
- das große Engagement der Beschäftigten im Gesundheitswesen für die Patient*innen
Ärzt*innen, Pflegekräfte und Therapeut*innen kümmern sich sehr engagiert und motiviert um die Kranken; Gesundheitsdienstleistungen sind dabei immer eine Teamarbeit. Qualitätssichernde Maßnahmen bilden die Behandlungsergebnisse inzwischen in vielen Bereichen ab.
Aber unser Gesundheitssystem hat auch unübersehbare Schwächen:
- ambulante Medizin und Krankenhäuser sind stärker getrennt als in anderen Ländern
In Deutschland werden mehr Leistungen im Krankenhaus erbracht als in anderen Ländern. Die stationäre und die ambulante Versorgung werden getrennt geplant und die Verknüpfung beider Sektoren funktioniert oft nicht zufriedenstellend. Diese „Sektorentrennung“ wirkt sich ungünstig für die Patient*innen aus. Wer liegt schon gerne im Krankenhaus, wenn die Behandlung auch ambulant möglich wäre? Und teurer ist eine stationäre Behandlung auch. Für chronisch und mehrfach Kranke gibt es oft keine ausreichende Begleitung durch das deutsche Gesundheitswesen.
- wirtschaftliche Überlegungen dominieren oft in den Krankenhäusern
In den Krankenhäusern herrscht erheblicher ökonomischer Druck, viele schreiben rote Zahlen. Ursachen sind eine zu geringe Investitionsfinanzierung durch die Länder, aber auch zu geringe Einnahmen durch die Fallpauschalen (DRGs). Patient*innen werden danach betrachtet, ob und wie lange sie sich für das Krankenhaus „lohnen“. Wirtschaftliche Überlegungen konkurrieren alltäglich mit medizinischen, ein schwieriges Thema für alle Ärzt*innen. Geschäftsführer*innen sind den Ärzt*innen vorgesetzt, oft besteht tatsächlich etwas, was schlagwortartig ein „Diktat der Ökonomie“ genannt wird.
- Über-, Unter- und Fehlversorgung existieren parallel
Lukrative Leistungen wie manche Operationen werden in Deutschland sehr häufig erbracht, schlechter bezahlte wie Beratung und ärztliches Gespräch erfolgen oft zu kurz und zu wenig. In manchen ländlichen und in sozial benachteiligten Regionen besteht heute schon ein erheblicher Ärztemangel und ein Versorgungsdefizit, während in Metropolen eine gute Versorgung herrscht.
- Arbeitsverdichtung vor allem in der Pflege
Die Pflege ist in den Krankenhäusern lange v.a. als „Kostenfaktor“ betrachtet worden, massive Einsparungen haben zu starker Arbeitsverdichtung und zu einer massiven Abwanderung aus dem Beruf geführt. Bei Ärzt*innen hat eine überbordende Bürokratie zu beruflicher Unzufriedenheit beigetragen.
- Armut bedingt Krankheit und Krankheit bedingt Armut
Wer sozial benachteiligt ist, hat ein höheres Risiko für eine Reihe von Erkrankungen und eine deutlich niedrigere Lebenserwartung. Dem deutschen Gesundheitswesen gelingt es zu wenig, diese Nachteile durch präventive Maßnahmen auszugleichen. Insgesamt ist unser Gesundheitssystem zu stark auf kurative und zu wenig auf präventive Aspekte ausgerichtet.
- Gesetzliche und private Krankenversicherung – eine unnötige Ko-Existenz
Leistungen bei Privatversicherten werden besser vergütet und die Wartezeiten für diese Patient*innen sind oft kürzer. Dabei ist die Versorgung von Privatversicherten durchaus nicht immer besser, nicht selten erhalten sie auch medizinisch unnötige Leistungen. Im Alter fällt es vielen Menschen schwer die hohen Gebühren der Privatversicherungen zu bezahlen.